Die Welttapete

Eine Einführung von Hajo Schiff


Ob Stahlplastiken, Laubsägearbeiten oder seit neuestem Drucke — bei Wolf von Waldow dominiert die Auseinandersetzung mit dem Ornament. Viele seiner Arbeiten vervielfältigen Symbole oder symbolfähige Formen zum Rapport. Dass in Repetition zum Muster entleerte Zeichen schön sein können, ist keine Frage. Doch galt das Ornament nicht lange als verbrecherische Sahnecreme am strengen Design? Gemach, selbst die Entwürfe des sprichwörtlich ornamentfeindlichen Adolph Loos sind aus heutiger Sicht nicht frei von kleinen Sahnehäubchen.

Unabhängig von ihrer jeweilig aktuellen Bewertung schaffen Ornamente einen Umraum, in dem gesellschaftsbestimmende Symbole beiläufig werden können, einen Raum, in dem verbindliche oder schon historische Werte sich nicht aufdrängen, sondern ganz selbstverständlich zur Verfügung stehen. So sind Ornamente auch wertvolle Informationen — mindestens für spätere Generationen oder fremde Kulturforscher. In so weit mag auch der Titel „Völkerkunde“, den Wolf von Waldow einer seiner neuesten Arbeiten gab, noch einen weitergehenden Sinn haben. Indem Ornamente die Bilder im Doppelsinn des Wortes aufheben, tragen sie zu einer Vergegenwärtigung kultureller Bilder bei, ohne dass es notwendig wäre, diese Bilder jederzeit bewusst zu entschlüsseln. Angenehm präsent, aber nicht dominant — schließlich weiß auch der coolste Designer, was er an der von Vergangenem raunenden Stimmung in seinem stuckbestückten Altbau schätzt.

Und dann gibt es da als Inspirationsquelle noch die Musik: Wolf von Waldow mag ‚Alte Musik‘ (auch selbstgespielte) und Techno (zum Tanzen). Diese nur scheinbar extrem unterschiedlichen Musikformen haben eine gemeinsame Grundstruktur: Sie zeichnen sich aus durch zahllose Varianten über ein Grundschema oder den durchgehenden, mit Tönen nur garnierten Dauerrhythmus. Sie sind also bestimmt durch einen Rapport in Raum und Zeit.

Weder nostalgisch noch modisch ist es, wie Wolf von Waldow die Ornamente verwendet. Als Künstler verwendet er Formen nicht unkritisch, sondern setzt sie bewusst für seine Zwecke ein. Er weiß genau, wie in der Bildgeschichte Zeichen als Embleme, Symbole und Allegorien mit hohen Bedeutungen aufgeladen wurden. Umso lieber unterwirft er seine Zitate einem Umdeutungsprozess: In den von ihm gewählten Kombinationen werden die einst bedeutungsschweren Zeichen erst als Ornamente neu verfügbar gemacht, dann werden sie in seinen Kompositionen wieder mit neuen, eigenen Bedeutungen aufgeladen.

Wenn Wolf von Waldow nun gar Tapeten entwirft, so geht es ihm kaum um das Design von Wandbekleidungen. Vielmehr entsteht die Option, vom Bildschirmschoner (englisch: Wallpaper) bis zur Wohnung ganze reale und virtuelle Räume mit einer motivischen Gruppe zu füllen, aus dem theoretisch grenzenlosen Anspruch seiner neuen Formfindungen. Denn ein Metazeichen für eine ganze Epoche, wie es der Scherenschnitt beispielsweise für die Romantik darstellt, passt nicht mehr allein in einen Bilderahmen und die Zusammenführung der Quantenphysik mit alter metaphysischer Welterklärung auf einer einzigen Fläche, sprengt eben jeden Rahmen.

Am Beispiel der Arbeit „Völkerkunde“ sei genauer erläutert, wie Wolf von Waldow aus schönen und gänzlich disparaten Elementen eine kosmische Bildfolie für unsere Existenz baut. Die Grundstruktur bezieht sich auf orientalische Sternflechtornamente, die einst die prästabile göttliche Harmonie der Welt in mathematisch-geometrisch reiner Form darstellten. Große Kreise im Hintergrund sind aus Weltformeln gebildet, die das All physikalisch beschreiben, so die Maxwellschen Gleichungen, die Heisenbergsche Unschärfenrelation, die Relativitätstheorie, Newtons Gravitationsgesetz und dergleichen. Diesen sind als zweite Ebene Elemente einer metaphysisch-religiösen Welterklärung vorgelagert. Den Vordergrund bildet ein Netz aus Arterien und Venen, dessen Kreuzungspunkte durch Medaillons hervorgehoben sind. Wie im Diskursmodell des Philosophen Ramon Llull von 1283 sind diesen die 16 Wesenheiten Gottes zugeordnet: Bonitas, Magnitudo, Aeternitas, Potestas, Sapientia, Voluntas, Virtus, Veritas, Gloria, Perfectio, Justitia, Largitas, Simplicitas, Nobilitas, Misericordia und Dominatio. Diese Medaillons assoziieren auch das Sphärenmodell der Welt: Im Zentrum steht die Erde, umgeben von Wasser, Luft und Feuer. Der Mensch selbst taucht auf in Form von Profilzitaten aus Tafeln der Rassentheorien des 20. Jahrhunderts, wobei deren ebenfalls wenig zutreffende Klassifikationen bewusst verwirrt wurden.

Makrokosmos und Mikrokosmos, universalistischer Anspruch und seltsam detailversessene Spekulation finden hier in einer ornamentalen Struktur zusammen. Foliantenfüllende Diskurse werden überraschend zur Präsenz gebracht in nur einer einzigen optischen Formulierung. Das trifft sich gut mit einer als allgemeine Bildwissenschaft verstandenen Kunstgeschichte, die seit kurzem untersucht, welche Bedeutungen die Graphen und Visualisierungen für die Wirkung der vermeintlich exakten Naturwissenschaften hatten und haben. Doch die definitive Festschreibung des Universums in Wort und Bild kann es, seit die mittelalterliche Heilsgewissheit verloren ist, nur als Wunsch geben. Die großartige Vermessenheit der Weltformel von Wolf von Waldow ist bei allem Anspruch, alte Zeichensysteme in die Gegenwart zu holen, auch ironisch gebrochen: Dieses Modell des Universums findet seine notwendige Relativierung darin, dass es als Tapete von der Rolle und als Rapport unabgeschlossen, eben angemessen unendlich ist.

© Hajo Schiff, 2008