Wolf von Waldow – Die Hand vor Augen

Einführungsrede von Christian Weller anlässlich der Ausstellung "Die Hand vor Augen", Neuer Kunstverein Wuppertal, Januar 2019


1. Poetische Piktogramme

Piktogramme helfen, uns in einer komplexen und überfüllten Welt zurechtzufinden. Sie sind der Inbegriff einer funktionalistischen Moderne, deren selbstbewusste Slogans „Fortschritt“, „Vernunft“, „Effizienz“, „Massenproduktion“ und „Satellitenstädte“ waren. Die Begriffe, die unsere Welt heute beschreiben, stammen eher aus dem Bereich der Naturkatastrophen: „Datenflut“, „zentrifugale Beschleunigung“, „Erosion von Gewissheiten“, „Shit storms“ ... Als Bilderfinder rettet Wolf von Waldow das Piktogramm in diese neue Zeit – und führt es zugleich ad absurdum. Das Zeichenhafte, die Reduktion, die Zweidimensionalität und der semiotische Anspruch seiner Arbeiten stehen in der Tradition der funktionalistischen Orientierungsembleme. Aber die in der Ausstellung gezeigten Zeichen weisen nicht den Weg. Sie stellen Fragen. Sie belassen die Widersprüche in der Schwebe. Sie bekennen sich zur Desorientierung.

    [Die Arbeit „Refugee Camp“ aus dem Jahr 2009 beispielsweise nutzt das Piktogramm für Fluchtweg, Es wird aber im Kreis angeordnet und als Ornament in einen Hintergrundteppich gewebt. Statt einer klaren Hinführung zum Ausweg zeigt sich das Hintergrundrauschen permanenter Bewegung.]

Was hier auf Rohrpfosten montiert ist, sind keine Verkehrszeichen, sondern eher Einkehrzeichen, die unsere von Vielstimmigkeit, Warenfetischismus und Sinnsuche geprägte Zeit reflektieren.

2. Ornament und Subversion

Rocaillen, schmückende Muster, Piktogramme, angewandte Kunst... Wolf von Waldow ist vor rund 30 Jahren quasi durch den Dienstboteneingang in den Kunsttempel eingedrungen – und hat dafür mächtig Gegenwind geerntet. Es war ein langer Weg, dass es uns mittlerweile vollkommen in Ordnung erscheint, wenn Logos, Werbung, Videoclips und Objekte des „niederen“ Alltags an Galeriewänden auftauchen. Dass er sich zugleich in der Asservatenkammer von Allegorie, Dekor und Tapete bedient und das Ganze mit dem in der Romantik populären Scherenschnitt und Zitaten aus der Kirchenkunst mixt, schrammt auch heute noch an Tabuzonen entlang. Deshalb hier ein kurzer Hinweis: Über Jahrhunderte war das Ornament ein Refugium für marginalisierte Bildwelten. Während die Madonna hell und hold in der Raummitte vom Altarbild herablächelte, trieben im Blattwerk der Kapitelle allerlei groteske Gestalten ihr Unwesen. Und ich mag die Vorstellung, dass Wolf von Waldow mit seinen mehrdeutigen Emblemen – quasi von der Seitenlinie aus – erratische Gewissheiten in Frage stellt. In den scheinbar harmlosen Formspielereien spiegeln sich die unbehaglichen Widersprüche der großen Narrative: Heimat und Migration, Umwelt und Einzelner, Kommerz und Sinn.

    [So nutzt Wolf von Waldow die Tapete als Inbegriff der Heimeligkeit, um Krisenherde, Flucht und Vertreibung als Menetekel an die Wand zu bringen. Grundrisse einer durchschnittlichen Dreizimmerwohnung erscheinen als Teil eines unendlichen Puzzles. Sieht man genauer hin, zieren Soldaten- und Autokratenbilder die Wand. Der Bewohner ist als Leerstelle mittendrin platziert, quasi ein Negativ zu den Silhouetten der anderen Werke. Lassen Sie sich auch bei den neueren Arbeiten nicht von dekorativen Gefälligkeiten täuschen! In der „Masterplan“-Station „Hope“ gibt es ein hübsches Zweig-Motiv. Dumm nur, dass es das Logo des Agrartech-Giganten Monsanto ist. In der Station „Safari“, kaum zu bemerken, hält ein Rabe einen Ring im Schnabel. Es handelt sich um das Wappentier des rassistischen Kommandanten von Deutsch-Südwestafrika.]

3. Der kreative Apparat

Beispiel wie diese finden sich in den Arbeiten von Wolf von Waldow in Hülle und Fülle. Sie sind auch Vexier- und Suchbilder und fordern zur aktiven Mitarbeit auf.

    [Das wird auf den ersten Blick deutlich bei der Tapeten-Arbeit „Refugee Camp“. Hier überlagern sich Ornamentteppiche aus Logos und Medienfundstücke. Der symbolisierte Bildschirm scheint einen Rahmen zu geben, aber letztlich ins Auge fallen die hochverdichteten Bildkreationen, die als Silhouetten gegeben sind. Mir gefällt die Idee, dass dies die zusammengepatchten Erinnerungsfragmente sind, die der überforderte Mediennutzer aus dem Datenrauschen herausfiltert...]

In den aktuellen Arbeiten – den „Narrativen“ und den Stationen zu „Masterplan“ – treten diese Silhouetten aus dem Hintergrund heraus und stehen für sich selbst. Die monochrom schwarzen Laserschnitte aus Stahl vermitteln zunächst einen überzeugenden Eindruck von Klarheit und Motivreduzierung. Das ganze Ausmaß ihrer semantischen Überdeterminierung erschließt sich erst auf den zweiten Blick.

    [Da wird ein Gewehr zum Fernrohr. Bomben entpuppen sich als Stubenfliegen. Die     Fleischstücke eines Lamms sind mit den Namen der Weltmeere gekennzeichnet. Der Rahmen um das Tier erscheint als Aktenkoffer. Eine Kurbel an der Seite stellt diese Deutung wieder infrage. Ist es ein Projektor? Oder eine Drehorgel, die eine endlose Litanei spielt? Ein Waldstück wird zur Wippe, die Erde zum Gymnastikball...]

In dieser Zeichenwelt erhalten die Dinge ungeahnte Potentiale. Bedeutungsfragmente schrumpfen, wuchern und wandern aus ihren Kontexten. Ihre Zusammenführung in einer raumlosen Ebene erzeugt eine Grammatik der Transformation. Wie im Traum oder im Spiel entsteht ein Universum mit eigenen Regeln und Alltäglichkeiten, die uns gerade deshalb faszinieren, weil sie uns immer ein wenig fremd bleiben werden.

4. Im Garten der Sinnbilder

Sprichwörtlich ist die Situation, in der man die Hand vor Augen nicht sieht. Eine Erfahrung ultimativer Desorientierung. Aber das Bild, das einem dazu in den Sinn kommt, ist vollkommen klar: ein Mensch, der im Dunkeln tappt und sich zur Selbstvergewisserung die Hand vors Gesicht hält. Im der Welt der Redewendungen werden komplexe Lebensumstände in ein Theater einfacher Handlungen übersetzt. Man springt über den eignen Schatten, pickt die Rosinen aus dem Kuchen und sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Es ist auch diese Art von Sinnbildern, die Wolf von Waldow als Rohmaterial für seine Bildwelten nutzt. Man lässt jemanden hängen, macht sich zum Narren, steht auf der Kippe. Doch wie im Obstbau pfropft der Künstler neue Triebe auf alte Gewächse. Und nun wäscht ein gebranntes Kind das andere, jemand bring sein Fähnchen ins Trockene und hängt sein Schäfchen in den Wind. Neue Besen kehren ihr eigenes Grab. Ich mag das Bild, dass sich auf diese Weise neuartige Pflanzen von eigenwilligem Wuchs entfalten. So gesehen könnte man die Stelen auch als sinngedüngte Blüten verstehen und diese Ausstellung als Garten, der zum Flanieren und Botanisieren einlädt.

5. Surreales Welttheater

Vielleicht kennen Sie Bruegels berühmtes Bild „Die niederländischen Sprichwörter“. In einer vollgestopften Szenerie gehen allerlei Bauern und Bürger des 16. Jahrhunderts eigentümlichen Beschäftigungen nach. Erst wenn man den Titel liest, begreift man, dass sie sich auf einer anderen Ebene bewegen. Auch Wolf von Waldow lässt seine Figuren sinnbildhaft agieren und erzeugt auf diese Weise durchaus surreale Szenen. Meist sind es Einzelne, manchmal Paare die in diesem seltsamen Theater auftreten – und zur Identifikation einladen. Wie ist der Protagonist dort gelandet? Was um Himmels Willen betreibt er da gerade? Was passiert als Nächstes? Es ist nicht einfach, diese Fragen zu beantworten, denn die vertrauten Spielregeln sind aufgehoben.

    [Im „Narrativ 1“ hockt die Figur des Denkers auf einem zerborstenen Brettspiel.]

Wolf von Waldow würde sagen, dass er genau das darstellen will: das Ungewisse, Ratlose, die Suche. Aber ist diese Offenheit nicht vielleicht auch wunderbar? Weil sie so unglaublich viele Möglichkeiten erzeugt! Ich sehe in den Figuren auch meinen Freund Wolf, der in seinem Atelier mit Bedeutungsfundstücken spielt, sie immer neu zusammensetzt und auf diese Weise rätselhafte, poetische und faszinierende Welten baut. Bildwelten, die subversiv sind gegenüber eingefahrenen Gewissheiten, die offen sind für Deutungen, die zum Erkunden ermuntern – und zum selber Denken. In diesem Sinne möchte ich sie dazu einladen, zu flanieren, zu schauen, gemeinsam ein paar Schritte im Dunkeln zu tappen und uns auszutauschen über die sprichwörtliche Hand vor Augen...