Wolf von Waldow – Zur Geschichte des Bauplatzes Talstraße 69-75, Hamburg St. Pauli

 
Recherche im Rahmen des Kunst-am-Bau-Projektes "Thalstraße" von Wolf von Waldow; 1999
 
 
Die Besiedlung des Gebiets von St.Pauli begann um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Es lag zwischen den Stadttoren von Hamburg und der Grenze zur Stadt Altona, das bis 1864 zu Dänemark, ab 1867 zu Preussen gehörte. Aufgrund seiner günstigen strategischen Lage diente Altona mehrfach in der Geschichte als Ausgangspunkt für Angriffe auf die Stadt Hamburg. Die Vorstadt St. Pauli wurde infolge dessen mehrfach total zerstört (1686 durch die Dänen; 1813 durch die Franzosen).
 
Der Bereich der heutigen Talstraße lag unmittelbar an der Grenze. Im Gegensatz zum bereits stärker besiedelten Altonaer Gebiet, befand sich hier bis zum Ende des 18.Jahrhunderts Wiesen- und Weideland, die sogenannte „Niemanns Bleiche". Die eigentliche Grenze bildete die Pepermölenbek, ein Bach, der jedoch nach 1845 zugeschüttet wurde. Zusätzlich war die Grenze mit einem Palisadenzaun befestigt. Entlang dieses Zaunes verlief ein „Grenzgang". Der Übergang auf Dänisches Staatsgebiet war nur durch bewachte Tore an der Reeperbahn (Nobistor), später auch an der Bleicherstraße möglich.
 
Nach der völligen Zerstörung St.Paulis infolge der französischen Besatzung 1813/14, wurde das Gebiet der „Thalstraße" im Zuge des Wiederaubaus erstmals besiedelt. Dabei gehörte das letzte Stück bis 1860 nicht zur Talstraße, sondern war Teil des Klütjenstiegs, der sich von der heutigen Bleicherstraße bis zum Hamburger Berg zog. Der Klütjenstieg war in diesem Abschnitt mit kleinen ein- bis zweistöckigen Häusern bebaut. Die Grundstücke waren sehr schmal und zogen sich bis zum Grenzgang hin. Hier lebten Handwerker und Kleinunternehmer (z. B. "Hr. Ramcke: Reibzündwaren-Fabrikant", "Fr. Pfannenschmidt: Schneiderin", "Hr. Müller: Zigarrenmacher"). Bereits vor der endgültigen Aufhebung der Torsperre 1861 wurde das Gebiet als stadt-, und hafennahes Spekulationsobjekt interessant.
 
Die alte Bebauung wurde zwischen 1860 und 1865 abgerissen. Interessanterweise erfolgte die Neubebauung nicht einheitlich. Um größere Mietshäuser errichten zu können, mußte man mehrere Grundstücke zusammenfassen. Vermutlich war dies aufgrund der sehr schmalen, langen Grundstücke und der entsprechend komplizierten Eigentumsverhältnisse nicht ganz einfach. Daher begann man auf einigen Grundstücken bereits mit dem Bau der Hinterhäuser, obwohl die älteren Handwerkerhäuser vorne noch standen und auch noch bewohnt waren (Beisp.:Nr. 73/75 Vorderhaus erb. 1863, Nr. 73a Hinterhaus erb. 1862). An anderer Stelle wurde zunächst das Vorderhaus errichtet und bezogen. Erst zwei Jahre später stellte man auch die Hinterhäuser fertig (Nr. 65/67/69/71 Vorderhaus, Nr. 67a – letzte bestehende und bewohnte Terrasse, abgerissen erst nach 2000, nach Fertigstellung des heutigen Wohnblocks).
Anm.: Die langen Hinterhausflügel wurden in Hamburg als "Terrassen" bezeichnet.
 
Bebauung der einzelnen Grundstücke nach ihrem Auftauchen im „Hamburgischen Adressbuch" 1859-67
(Historische Nummerierung Thalstraße 59-81, heutige Nummerierung Talstraße 69-75)
 
Vorderhaus Bau Abriss/Zerst. Hinterhaus Bau Abriss/Zerst.
Nr. 59/61 1864 1963 (?) Nr. 57 1865 1980
Nr. 63 1864 1963 (?)    
Nr. 65/67/69/71 1863 1944 Nr. 67a 1865 nach 2000
Nr. 73/75 1863 (?) 1945/1965 Nr. 73a 1862 1945
Nr. 77/81 1861 (?) 1961 (?) Nr. 79 1860 1944

Die Gebäude wurden für damalige Verhältnisse vergleichsweise großzügig angelegt. Da man die Baulinie der Straße offenbar zunächst breiter plante, sprangen die Vorderhäuser etwas zurück und ließen so Raum für kleine, umzäunte Vorplätze oder sogar Vorgärten. Im Erdgeschoss waren Läden untergebracht. Die Terrassengebäude der einzelnen Grundstücke standen zwar mit ihren Rückseiten dicht aneinander, hatten nach vorne hin aber kleine, baumbestandene Nutzgärten. Es waren zunächst keine Arbeiterquartiere. Hier wohnten kleine Handwerker, Angestellte, auffallend viele „Schiffskapitäne", auch Musiker. Der Unterschied wird deutlich, wenn man diese Bebauung mit der früher entstandenen, viel engeren Jägerpassage zwei Straßen weiter vergleicht, die ja für Arbeiter gedacht war.

Die Wohnqualität verschlechterte sich allerdings rapide. Die Hinterhöfe wurden im Laufe der Zeit immer weiter mit Werkstätten zugebaut (1896: Nr. 73; Nr. 87/91), die Keller als Wohnungen vermietet. Infolge dessen veränderte sich auch die Sozialstruktur. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts lebten bereits viele Arbeiter hier. Einzelne Häuser verkamen immer mehr. So beschwerten sich in den 1920er Jahren Passanten z.B. über herabstürzende Gebäudeteile an Haus Nr. 73. Nicht von ungefähr war die Talstraße einer der Ausgangspunkte für die Hungerrevolten im Frühjahr 1919. Gleichzeitig aber entwickelte sich in diesem Viertel – immer beargwöhnt von der Polizei – eine ungewöhnlich vielfältige, multiethnische Lebenskultur. So war zum Beispiel die Schmuckstraße in den zwanziger und frühen dreissiger Jahren ein Zentrum des chinesischen Lebens in Hamburg.

Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs betrafen nur einen Teil der Gebäude. Total zerstört waren lediglich Nr. 65/67/69/71 – das Vorderhaus der bis nach 2000 noch bestehenden Terrasse – und Nr. 79 (Terrasse von Nr.77/81). Teilzerstört war das Haus Nr 73/75 (Vorderhaus und Terrasse). Die restlichen Gebäude hatten den Krieg mehr oder weniger intakt überstanden. Auch teilzerstörte Häuser wurden provisorisch instand gesetzt, denn Wohnraum war knapp. Ab dem Beginn der fünfziger Jahre bemühten sich die Grundstücksbesitzer um Baugenehmigungen für den Wiederaufbau ihrer Häuser (1950: Nr. 65/67/69/71, 1958: Nr. 73/75). Die Stadt aber hatte andere Pläne mit dem Gebiet.

Eine generelle Neustrukturierung des gesamten Stadtteils war geplant. Als Teil davon sollte ein Autobahnzubringer quer durch das Gebiet geführt werden. Die Pläne dürften zu diesem Zeitpunkt allerdings noch recht unkonkret gewesen sein. Um sich alle Möglichkeiten offen zu halten, setzte die Stadt alles daran, eine Neubebauung des Gebiets zu verhindern. Eine rechtliche Handhabe dafür hatte sie allerdings nicht, was in behördeninternen Aktennotitzen auch durchaus eingeräumt wurde. So führte man teilweise groteske Verhandlungen über einen eventuellen Kauf der Grundstücke, bot Ersatzgrundstücke zum Tausch, die noch gar nicht im Besitz der Stadt waren, einigte sich endlich auf Kaufsummen, die die Stadt dann aber nicht aufbringen konnte (Nr, 73/75). Immerhin wurde mit dieser Taktik ein Wiederaufbau des Gebiets bis zum Beginn der sechziger Jahre verhindert. Erst dann kaufte die Stadt nach und nach alle Grundstücke auf und ließ die Häuser, bis auf Nr. 67a (Terrasse zu Nr. 65/67/69/71) abreißen.

Während dieser ganzen Zeit waren auch die Teilruinen noch bewohnt. Immer wieder beantragten Mieter Baumaterial für die notwendigsten Reparaturen. Aufgrund der katastrophalen Wohnverhältnisse, bemühte sich die Sozialbehörde natürlich um alternativen Wohnraum – oft gegen den erklärten Willen der Bewohner, die ihre Wohnungen, in denen sie ja zum Teil schon vor dem Krieg gewohnt hatten, nicht verlassen wollten. Die Wohnraumknappheit war so groß, daß selbst geräumte Wohnungen noch bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre hinein „unbewohnbar gemacht' werden mußten, um den Nachzug neuer Bewohner zu verhindern! Der Autobahnzubringer wurde ab Ende der sechziger Jahre als Simon-von-Utrecht-Straße verwirklicht. Die anderen Pläne blieben aus Geldmangel, und wohl auch weil sie politisch nicht durchsetzbar waren, weitgehend Makulatur. Erst Mitte der neunziger Jahre, also 30 Jahre nach ihrer Räumung, entschied man sich die Grundstücke an der Talstraße erneut mit Wohnhäusern zu bebauen.

Thalstraße um 1900, Hamburg-St. Pauli; Blick von der heutigen Paul-Roosen/Clemens-Schultz-Str.
Hausnummern 81-59, beginnend ab 3. Haus v. r.; 2. Haus v. r. heute noch erhalten
 

 

Quellen    
Feuerakte Talstr. 73/75 1896-1965 Staatsarchiv Hamburg
Bauantrag Talstr. 65/71 1950 Bezirksamt Mitte, Hamburg
div. Stadt-, und Bebauungspläne 1745-1981 Staatsarchiv Hamburg,
St.Pauli Archiv
Hamburger Adressbuch, div. Bände 1840-1962 Comerz Bibliothek, Hamburg
Im Schatten des großen Geldes. Wohnen auf St.Pauli.
Hrsg.: St.Pauli Archiv, 1990
   

© Wolf v. Waldow, 1999