Wolf von Waldow – Zur Geschichte des Bauplatzes Talstraße 69-75, Hamburg St. Pauli
(Historische Nummerierung Thalstraße 59-81, heutige Nummerierung Talstraße 69-75)
Vorderhaus | Bau | Abriss/Zerst. | Hinterhaus | Bau | Abriss/Zerst. |
Nr. 59/61 | 1864 | 1963 (?) | Nr. 57 | 1865 | 1980 |
Nr. 63 | 1864 | 1963 (?) | – | ||
Nr. 65/67/69/71 | 1863 | 1944 | Nr. 67a | 1865 | nach 2000 |
Nr. 73/75 | 1863 (?) | 1945/1965 | Nr. 73a | 1862 | 1945 |
Nr. 77/81 | 1861 (?) | 1961 (?) | Nr. 79 | 1860 | 1944 |
Die Gebäude wurden für damalige Verhältnisse vergleichsweise großzügig angelegt. Da man die Baulinie der Straße offenbar zunächst breiter plante, sprangen die Vorderhäuser etwas zurück und ließen so Raum für kleine, umzäunte Vorplätze oder sogar Vorgärten. Im Erdgeschoss waren Läden untergebracht. Die Terrassengebäude der einzelnen Grundstücke standen zwar mit ihren Rückseiten dicht aneinander, hatten nach vorne hin aber kleine, baumbestandene Nutzgärten. Es waren zunächst keine Arbeiterquartiere. Hier wohnten kleine Handwerker, Angestellte, auffallend viele „Schiffskapitäne", auch Musiker. Der Unterschied wird deutlich, wenn man diese Bebauung mit der früher entstandenen, viel engeren Jägerpassage zwei Straßen weiter vergleicht, die ja für Arbeiter gedacht war.
Die Wohnqualität verschlechterte sich allerdings rapide. Die Hinterhöfe wurden im Laufe der Zeit immer weiter mit Werkstätten zugebaut (1896: Nr. 73; Nr. 87/91), die Keller als Wohnungen vermietet. Infolge dessen veränderte sich auch die Sozialstruktur. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts lebten bereits viele Arbeiter hier. Einzelne Häuser verkamen immer mehr. So beschwerten sich in den 1920er Jahren Passanten z.B. über herabstürzende Gebäudeteile an Haus Nr. 73. Nicht von ungefähr war die Talstraße einer der Ausgangspunkte für die Hungerrevolten im Frühjahr 1919. Gleichzeitig aber entwickelte sich in diesem Viertel – immer beargwöhnt von der Polizei – eine ungewöhnlich vielfältige, multiethnische Lebenskultur. So war zum Beispiel die Schmuckstraße in den zwanziger und frühen dreissiger Jahren ein Zentrum des chinesischen Lebens in Hamburg.
Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs betrafen nur einen Teil der Gebäude. Total zerstört waren lediglich Nr. 65/67/69/71 – das Vorderhaus der bis nach 2000 noch bestehenden Terrasse – und Nr. 79 (Terrasse von Nr.77/81). Teilzerstört war das Haus Nr 73/75 (Vorderhaus und Terrasse). Die restlichen Gebäude hatten den Krieg mehr oder weniger intakt überstanden. Auch teilzerstörte Häuser wurden provisorisch instand gesetzt, denn Wohnraum war knapp. Ab dem Beginn der fünfziger Jahre bemühten sich die Grundstücksbesitzer um Baugenehmigungen für den Wiederaufbau ihrer Häuser (1950: Nr. 65/67/69/71, 1958: Nr. 73/75). Die Stadt aber hatte andere Pläne mit dem Gebiet.
Eine generelle Neustrukturierung des gesamten Stadtteils war geplant. Als Teil davon sollte ein Autobahnzubringer quer durch das Gebiet geführt werden. Die Pläne dürften zu diesem Zeitpunkt allerdings noch recht unkonkret gewesen sein. Um sich alle Möglichkeiten offen zu halten, setzte die Stadt alles daran, eine Neubebauung des Gebiets zu verhindern. Eine rechtliche Handhabe dafür hatte sie allerdings nicht, was in behördeninternen Aktennotitzen auch durchaus eingeräumt wurde. So führte man teilweise groteske Verhandlungen über einen eventuellen Kauf der Grundstücke, bot Ersatzgrundstücke zum Tausch, die noch gar nicht im Besitz der Stadt waren, einigte sich endlich auf Kaufsummen, die die Stadt dann aber nicht aufbringen konnte (Nr, 73/75). Immerhin wurde mit dieser Taktik ein Wiederaufbau des Gebiets bis zum Beginn der sechziger Jahre verhindert. Erst dann kaufte die Stadt nach und nach alle Grundstücke auf und ließ die Häuser, bis auf Nr. 67a (Terrasse zu Nr. 65/67/69/71) abreißen.
Während dieser ganzen Zeit waren auch die Teilruinen noch bewohnt. Immer wieder beantragten Mieter Baumaterial für die notwendigsten Reparaturen. Aufgrund der katastrophalen Wohnverhältnisse, bemühte sich die Sozialbehörde natürlich um alternativen Wohnraum – oft gegen den erklärten Willen der Bewohner, die ihre Wohnungen, in denen sie ja zum Teil schon vor dem Krieg gewohnt hatten, nicht verlassen wollten. Die Wohnraumknappheit war so groß, daß selbst geräumte Wohnungen noch bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre hinein „unbewohnbar gemacht' werden mußten, um den Nachzug neuer Bewohner zu verhindern! Der Autobahnzubringer wurde ab Ende der sechziger Jahre als Simon-von-Utrecht-Straße verwirklicht. Die anderen Pläne blieben aus Geldmangel, und wohl auch weil sie politisch nicht durchsetzbar waren, weitgehend Makulatur. Erst Mitte der neunziger Jahre, also 30 Jahre nach ihrer Räumung, entschied man sich die Grundstücke an der Talstraße erneut mit Wohnhäusern zu bebauen.
Thalstraße um 1900, Hamburg-St. Pauli; Blick von der heutigen Paul-Roosen/Clemens-Schultz-Str. Hausnummern 81-59, beginnend ab 3. Haus v. r.; 2. Haus v. r. heute noch erhalten |
Quellen | ||
Feuerakte Talstr. 73/75 | 1896-1965 | Staatsarchiv Hamburg |
Bauantrag Talstr. 65/71 | 1950 | Bezirksamt Mitte, Hamburg |
div. Stadt-, und Bebauungspläne | 1745-1981 | Staatsarchiv Hamburg, St.Pauli Archiv |
Hamburger Adressbuch, div. Bände | 1840-1962 | Comerz Bibliothek, Hamburg |
Im Schatten des großen Geldes. Wohnen auf St.Pauli. Hrsg.: St.Pauli Archiv, 1990 |
© Wolf v. Waldow, 1999